Was ist dein Lichtblick?

Lichtblick? Was ist das denn für ein Wort? Klingt im besten Fall nach Ökostrom, im schlimmsten nach Omas Poesiealbum. Lichtblick … Klar, die aufgeprägte Assoziation ist Hoffnungsspender in aussichtsloser Lage. Stimmt schon. Aber Fotografen, die noch Dunkelkammern benutzen, hören da auch Bedrohliches. Und nicht nur sie. Ich nehme die aktuelle Situation nicht als Dunkelheit wahr. Im Gegenteil: Im gleißenden Licht der medialen Aufmerksamkeit geschehen Dinge, die alle Maßstäbe sprengen: Die Welt hält an, weil ein Erkältungsvirus auftaucht, den wir nicht mit probaten Medikamenten „in den Griff bekommen“. Alles dazu Gehörende wird grell beleuchtet: Wie verbreitet sich der Virus, z.B. im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Wer hat welche Einbußen seines Geschäftes? Wo hat ein Wissenschaftler wieder eine klinische Studie gestartet? Welche Unternehmen haben Kurzarbeit für wie viele Personen beantragt? Alles im hellen Scheinwerferlicht.
Ich lese das seit 8 Wochen jeden Tag, versuche, die richtigen Schlüsse zu ziehen und schaue immer wieder hin, obwohl meine Augen bereits schmerzen von der strahlenden Helligkeit. Sie schmerzen, sie tränen und sie brennen. Der Schmerz wird über den Sehnerv direkt in mein Gehirn geleitet, das versucht aus den Schmerzsignalen Muster herauszulesen, die eine Einschätzung der Lage und vor allem eine Prognose ermöglichen könnten. Aber nichts. Keine Erlösung in Sicht. Ich klammere mich an Bekanntes: Bring Deine Familie in Sicherheit. Sorge für Vorräte. Achte darauf, dass Dein Unternehmen wirtschaftlich fit ist. Spare Geld. Finde Verbündete. Alles das mit brennenden, schmerzenden Augen, die immer und immer wieder das helle Licht der unbarmherzigen Fakten sehen und sehen müssen.

Ich sehne mich nach Dunkelheit. Nach Ruhe. Nach Kühle. Die Augen schließen. Die Reize abschalten. Die dauernde Aufmerksamkeit hinter mir lassen. Mal nicht wissen, wie schlimm es ist. Und trotzdem keine Angst haben. Keine Sorgen. Nicht das Gefühl, Entscheidendes unterlassen zu haben.

Keine Häuser, keine Autos, keine Menschen, keine Landwirtschaft. Da habe ich mich hingesetzt, unter guter Deckung, gern so ein, zwei Stunden vor Sonnenuntergang.

Ich habe mich in den letzten Wochen immer wieder ins Auto gesetzt und bin raus aus der Stadt gefahren. Ich bin gefahren, bis die suburbane Bebauung aufhört und das Hinterland beginnt. Ich habe das Auto abgestellt und bin gelaufen, bis ich allein war. Wenn ich in Amerika oder Russland wohnen würde, hätte ich gesagt: in die Natur. Mir ist bewusst, dass hier alles Kulturlandschaft ist. Aber man findet Ecken, wo man nah dran ist an der Natur. Keine Häuser, keine Autos, keine Menschen, keine Landwirtschaft. Da habe ich mich hingesetzt, unter guter Deckung, gern so ein, zwei Stunden vor Sonnenuntergang. Am Anfang schweigt alles. Ein Mensch ist im Revier! Die Vögel verharren. Größere Tiere sowieso. Sogar die Insekten sind kurz zurückhaltend. Nach einer halben Stunde reglosen Dasitzens fangen alle wieder an, ihren Tätigkeiten nachzugehen. Vögel verteidigen mit intensivem Gesang ihre Reviere und suchen Partner. Wenn der Wind günstig steht, treten Rehe aus dem Raps.

Meine Gedanken kommen zur Ruhe. Ich erlebe das Jetzt viel besser, als ich es im Normalbetrieb kann.

Ich sitze reglos und merke, wie ich selber ruhig werde. Ich beginne zu fühlen, dass ich ein Teil von all dem bin. Meine Gedanken kommen zur Ruhe. Ich erlebe das Jetzt viel besser, als ich es im Normalbetrieb kann. Die Zeit vor dem Sonnenuntergang ist ganz besonders. Die Sonnenstrahlen fallen fast waagerecht ein. Sie sind richtig warm und blenden bei falscher Blickrichtung. Hat man die Sonne im Rücken, entsteht ein Klarheit des Blickes, die fassungslos machen kann. Jedes Detail, jede Kontur wird sichtbar. Aber das Beste kommt, wenn die Sonne untergeht. Die Farben ändern sich beinahe schlagartig. Es wird sofort merklich kühler. Die Dämmerung beginnt. Die Augen merken es zunächst fast gar nicht. Die Adaptionsgeschwindigkeit der anbrechenden Nacht ist der Auslegungsfall für unsere Augen. Die Evolution hat uns auf genau diesen Übergang zwischen Licht und Dunkel vorbereitet. Die Augen strengen sich dabei nicht an. Sie entspannen. Kühle und Dunkelheit tun gut. Gleichzeitig wird die Konzentration auf das Jetzt noch stärker. Alte Angstmuster springen an. Alle Geräusche werden doppelt stark gehört. Jede Luftströmung wird wahrnehmbar. Gerüche werden intensiver wahrgenommen. Dann Dunkelheit. Die Sterne werden sichtbar. Mond, Venus, unsere Nachbarplaneten. Alles da. Das ist mein Lichtblick.



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Der Lichtblick muss nicht aus Licht sein. Dieses Paradox freut mich. Wir sind nicht verurteilt, das Offensichtliche als einzige Realität zu akzeptieren. Die Krise, der Virus, die Wirtschaft, die Schulen, die Gesellschaft – alles wichtig. Alles in Besorgnis erregender Weise durcheinander. Aber bloß, weil die Scheinwerfer auf all das gerichtet sind, gibt es doch trotzdem die Welt ohne all das. Vielleicht bringt uns die Krise sogar eine Verbesserung? Vielleicht ist der Virus der Waldbrand, der neue Vegetation ermöglicht? Vielleicht erkennen wir, was wichtig ist? Keine Ahnung. Nur: dieses Dauerstarren bei 10.000 Lux schmerzt. Und ich weiß, dass die Dunkelheit da ist und auf mich wartet.
Darin liegt ein große Freiheit.

Florian Finkenstein

Florian Finkenstein ist Geschäftsführer der seecon Ingenieure GmbH und beschäftigt sich beruflich mit Nachhaltiger Stadtentwicklung und Klimaschutz. Er lebt mit seiner Familie und einem Rauhaardackel in Leipzig.

Florian Finkenstein