Die endliche Leichtigkeit des Scheins

Es ist Sommer 2020. Ich werde immer noch manchmal als Vertreter "der Jugend" begrüßt, obwohl ich eine Generation älter bin als die eigentliche Jugend. Im Springbrunnen vor unserem Büro an der stalinistisch angehauchten Ringbebauung tanzen Kinder. Nichts hält sie in den aufgeheizten, stickigen Zimmern. Autos verbrennen an ihnen vorbei Kohlenwasserstoffgemische. Radfahrende verbrennen an ihnen vorbei vegane, vegetarische oder auch carnivore Gemische. Wenn carnivor, dann aber vorzugsweise aus regionaler, biologischer oder zumindest tierwohl- und wesensgerechter Quelle, wie sie versichern.
Ob überklimatisiert oder stickig, in den Büros der Stadt rauchen Köpfe, laufen Videogespräche, werden Notfallpläne gestrickt und Auswege aus den Notfallvarianten gesucht. Mit Leichtigkeit bringen einige Akteure noch Agendapunkte im öffentlichen Aufruhr unter, andere nutzen gut gemeinte und nicht mit Zielgruppen nutzervertestete Förderprogramme über Gebühr aus und bringen das System zu Fall.

Es ist Sommer 2020. Szenarien, Abwägungen, Anpacken, Ausprobieren. Versuchungen. Licht & Schatten.

Oh, der Zyklus ist schon wieder zurück, jetzt bitte antizyklisch leerverkaufen.
Wird uns jemand dafür bewerten, beurteilen, verurteilen?

Fördermittel im Zweifel beantragen? Konferenz digital wagen? Geschäftsmodell langfristig neu ausrichten? Jetzt antizyklisch investieren, an der Börse oder in Werbeanzeigen? Oh, der Zyklus ist schon wieder zurück, jetzt bitte antizyklisch leerverkaufen. Wird uns jemand dafür bewerten, beurteilen, verurteilen?

Es könnte sein!
Corona hält unsere Gesellschaft nicht davon ab, gleichzeitig ein Virus und andere gravierende Missstände aufzugreifen und zu bearbeiten. Zwar in Aufregung, aber durchaus auch sachlich. Digitale Möglichkeiten erhalten einiges an Austausch aufrecht, helfen auch bei der Dokumentation, Katalogisierung, Verbreitung von Informationen. Staatliche Institutionen beteiligen sich an neuen Formen der Beteiligung, Solidarität wird in unterschiedlichsten Netzwerken gelebt, besonders auch im digitalen Raum. Unsere Vereine, unsere Institutionen, unsere Unternehmen, unsere Organisationen, sie alle werden durch Menschen gemacht, und Menschlichkeit und Mitgefühl sollten in ihren Entscheidungsvorgängen verankert sein. So tief, dass sie nicht durch kurzfristige Gelüste und Jieper zurückgenommen werden können. Es ist wunderbar, dass sich Menschen an Ungerechtigkeit und Unfertigkeit reiben und für eine saubere, angstfreie, gewaltfreie, gesunde, gerechte, bunte, sichere, laute, leise, lebendige Zukunft kämpfen. Das ist mein Lichtblick. Er scheint mir unvergänglich.

Das Wissen der Welt hat sich seit 2020 vervierfacht, das Erzeugen von Schein ist um ein Vielfaches schwieriger geworden, die Umsetzung von bloßem Schein in Realität löst sofort real sichtbare Schwierigkeiten für die Verursacher aus.

Es ist Sommer 2030. Gut gemeint ist immer noch nicht gut gemacht. Mehr Licht, die Schattenecken werden besser ausgeleuchtet, ungewohnt, unbequem für manche. Aber auch Gewohnheit für viele, inzwischen. The new normal. Nicht antizyklisch, aber noch asynchron. Die soziale Netzabdeckung hat noch weiße Flecken, das neue Normal ist noch nicht in allen Regionen der Welt verfügbar. Die Kinder, die den Springbrunnen vor der Ringbebauung immer geliebt haben, sind auf der Straße, mit neuem Auftrag. Sie haben viel gelernt in kollegialer Fallberatung von den älteren Generationen der For-Future- und Black-Lives-Matter-Bewegungen. Faktenchecks, Wirkungsanalysen, wissenschaftlich fundierte Arbeitsweisen genauso wie ein Gespür für Blendung und Täuschung sind Teil ihrer Grundausrüstung. Das Wissen der Welt hat sich seit 2020 vervierfacht, das Erzeugen von Schein ist um ein Vielfaches schwieriger geworden, die Umsetzung von bloßem Schein in Realität löst sofort real sichtbare Schwierigkeiten für die Verursacher aus. Redundanter Quatsch wird gelabelt und downgevotet. Menschen sind regelmäßig im Zen selbstgewählter Informationsquarantäne. Denn sie sind verantwortungsvoll sich selbst gegenüber, aber auch gegenüber ihrer Umwelt. Ein Untertauchen und ein Identitätswechsel, ein Was-schert-mich-mein-Geschwätz von gestern ist nicht mehr so einfach. Die Intention hinter den Handlungen wird mitbewertet.

Ebay-Bewertungen, Amazon-Bewertungen, Google-Bewertungen, all das erzeugte bereits 2020 harten Wettbewerb. Die Bewertung aus der Sicht von 2030 ist noch unerbittlicher geworden, als wir es im damals endlich mit den Statuen und der Geschichte von Sklavenhändlern erlebten.
Wofür die Menschen 2030 auf die Straße gehen? Immer noch in der Verhandlung der Frage nach einer motivierenden, sinnvollen, fairen Verteilung von Eigentum und Besitz, aber mit neuen Facetten.

Es ist Sommer 2030. Die endliche Leichtigkeit des Scheins ist einer unendlichen Verbindlichkeit des Seins gewichen. Ich sehne mich irgendwie nach der zerstörerischen, selbstzerstörerischen, wilden Jugend zurück. Selbst 2020 kommt mir jetzt vor, als sei es meine Jugend gewesen. Aber unvernünftig war sie halt schon. Ist unvernünftig das richtige Wort? Früher war alles anders. Wie das die Jugend von heute wohl sieht?

Martin Jaehnert

Mit Impact Hub Leipzig begleitet Martin Jähnert die Übersetzung von Problemfeldern in Ideenfindungsformate in Ideen in Projekte in Wirkung. Nebenbei verantwortet er mit seinem Modelabel ernst aber lässig die slowfashion Marke dreiklangkleidung. Während seines Studiums zum Wirtschaftsingenieur, Design Thinker und Nachhaltigkeitsmanager gründete Martin u.a. Schülerpaten Berlin e.V. und binee mit.

Martin Jaehnert