Elefant im Raum
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Das Jahr begann für mich mit zwei bemerkenswerten Ereignissen an einem Tag: Erstes „Stand up“ im Plagwitzer Büro meiner neuen (eigenen) Firma am Vormittag, Diagnose „Brustkrebs“ am Nachmittag. Wirklich, kein Scherz, keine literarische Zuspitzung, um diesen Artikel dramaturgisch aufzuhübschen. 2020 wurde zum Jahr des pinkfarbenen Elefanten, der seitdem in meinem Leben sichtbar unsichtbar im Weg rumsteht.
»2020 wurde zum Jahr des pinkfarbenen Elefanten, der seitdem in meinem Leben sichtbar unsichtbar im Weg rumsteht«
Diagnostiktermine, Operationen, Therapiepläne für die Chemotherapie – es kristallisierte sich heraus, dass 2020 für mich nicht gerade zum Jahr des beruflichen Durchstartens wird. Mitpatientinnen werden über viele Monate krankgeschrieben. Zum einen, weil es Betroffenen einfach an etlichen Tagen richtig mies geht, zum anderen, weil das Immunsystem durch die Therapie stark eingeschränkt wird. Andere Menschen sind potentielle Gefahrenquellen.
Monatelanges Krankschreiben für mich kommunikationssüchtige Rampensau? Unvorstellbar! Mir war schnell klar, dass ich weiterarbeiten will. Indes; nur weil ich das will, ist es ja noch lange nicht praktikabel. Ein Großteil unseres Kerngeschäfts bestreiten wir mit Präsenzveranstaltungen, Bürgerbeteiligungsevents, Workshopmoderationen oder persönlichen Vor-Ort-Beratungen. Wie soll’n das gehen? Wenn, dann nur irgendwie gemeinsam.
Teamtag mit Gretchen
So stellte ausgerechnet ich, die genderdiskussionsmüde Alterspräsidentin der Firma, gleich beim ersten Teamtag die Gretchenfrage: „Wie haben wir’s (wirklich) mit der Teilhabe?“
Wieso Teamtag? Wir Lots*innen haben uns im letzten Jahr gefunden, weil wir anders arbeiten wollen, es ernst meinen mit den Konzepten der „Neuen Arbeitswelten“ wie Selbstverwirklichung, Vertrauensarbeit, Remote-Work. Und wir praktizieren wollen, was wir predigen: Diversität, Gendergerechtigkeit, Teilhabe.
Einmal im Monat nehmen wir uns daher alle einen gemeinsamen Tag, den Teamtag, an dem wir uns mit Hilfe von Workshop-Methodiken uns selbst widmen und unsere Organisation betrachten. Für mich schmeichelhaftes Teamtags-Ergebnis: Die Kollegen wollen nicht auf mich verzichten, wir probieren maximale Flexibilität.
»Doch dann geschah ein Wunder: Sukzessive richtete sich die ganze Welt nach meinen neuen Bedürfnissen. Plötzlich arbeiteten alle so, wie ich es brauchte«
Zu meinem Glück hatten wir von Beginn an bei der Konzeption und Ausstattung unserer Infrastruktur viel Wert darauf gelegt, dass die virtuelle Zusammenarbeit zwischen unseren Standorten Berlin und Leipzig flutscht. Ich zog daher vorbildlich ausgerüstet ins Homeoffice, um meine Kollegen via Videokonferenz, Telefon, Konzeptarbeit und E-Mails im Tandem zu unterstützen. So war der Plan.
Das Corona-Wunder
Doch dann geschah ein Wunder: Sukzessive richtete sich die ganze Welt nach meinen neuen Bedürfnissen. Plötzlich arbeiteten alle so, wie ich es brauchte: dezentral, im Homeoffice, digital/virtuell, wegen der Kids@home zu teilweise absurden Tages- und Nachtzeiten.
Unser digitales Beteiligungsformat, bis dahin eher eine Orchideen-Kompetenz, war plötzlich heißer Scheiß und unsere Weiterbildungen in „Digitalen Workshopformaten“, bis dahin milde belächelt, zahlten sich auf einmal schneller aus, als wir in unseren wildesten Business-Forecasts vermutet hätten.
»Ja, für mich waren die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Arbeitswelt ein wahrer Segen, weil sie es mir ermöglichten, meine Wünsche zu verwirklichen«
Niemandem außerhalb Lots* musste ich mich erklären, wenn ich Meetings vor Ort nicht absolvieren konnte, tageweise von der Bildfläche verschwand oder wie selbstverständlich zu Videokonferenzen einlud. Ja, für mich waren die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Arbeitswelt ein wahrer Segen, weil sie es mir ermöglichten, meine Wünsche zu verwirklichen: Nämlich ein vollwertiger Teil meiner Firma zu bleiben, deren Geschicke mit zu bestimmen und Werte zu schöpfen – ohne ein schwerbehinderter Hemmschuh zu sein.
Haarig zum Schluss
Klingt zu kitschig? Allerdings. Es wäre heuchlerisch und einäugig, die kehrseitigen Aspekte auszublenden.
- Egal, für wie partizipativ man sich hält: Es ist natürlich viel leichter, Diversität und Teilhabe in ein Unternehmen zu integrieren, wenn eine Betroffene auch Geschäftsführerin ist.
- Es gibt Partner und Kunden, die nicht gerade darauf brennen, von einer vermeintlich chemogeschwächten glatzköpfigen Beraterin betreut zu werden.
- Und – so sehr wir das gerade alle genießen und die Feuilletons damit liebäugeln, dass das jetzt alles so remote und mellow bleibt – das wird es vermutlich nicht.
Der letzte Lots*-Teamtag beschloss: Wir Lotsinnen werden uns ganz stringent die Aspekte bewahren, die sich für uns bewährt haben, während der nächsten Teamtage werden wir gemeinsam identifizieren, welche das sind und wie es uns gelingen kann. Unsere Familienmenschen möchten sich zum Beispiel die Flexibilität der Remote-Arbeit als feste Größe erhalten. Ich übrigens auch und solange mein Elefant hier noch rumsteht, erst recht. Den neuen Kunden in Tbilisi werde ich im Herbst natürlich trotzdem nicht vor Ort betreuen können, was mich gelinde gesagt ankotzt.
Als mich mein Kollege zum Fachvortrag in Frankfurt im Februar einlud, hab ich aber doch zugesagt: „Na klar, da hab ich sogar schon wieder Haare!“.
PS: Dieser Artikel wäre nicht entstanden und nicht erschienen ohne die Zustimmung aller meiner Lots*innen. Danke an dieser Stelle für Eure Unterstützung!
PS zu PS: Danke an Peter von petereichlerfotografie fürs Porträtshooting – der einzige Mann, dem ich diese diffizile Aufgabe anvertrauen wollte.
Franziska Morgner
Franziska Morgner ist Mitbegründerin und Mit-Geschäftsführerin der Leipziger Beratungsagentur Lots*, die nach innen und außen eine partizipative, holistische Haltung einnimmt, Teilhabe, Empowerment und Diversität ermöglicht und sich besonders für zukunftsgewandte Mobilitätskonzepte, urbane Veränderungen und neue Arbeitswelten engagiert.